Geschichte to go am Blutmai-Gedenkstein

Dort, wo die Wiesenstraße über die Panke führt, wird die Fortbewegung langsamer. Warum? Radfahrer, die auf dem Pankeweg am Fluss entlang fahren, müssen eine Kurve nehmen und dann die Straße überqueren. Autos...

 

... auf der Wiesenstraße bremsen ab, um Vorfahrt zu gewähren. Müllsammler von BSR und privaten Initiativen brauchen mehr Zeit, weil oft besonders viel Unrat zu beseitigen ist. Selbst das Pankewasser fließt langsamer, weil hier das Flüsschen tiefer als an anderen Stellen ist. Und bisweilen mag es auch geschehen, dass eine Passantin oder ein Passant stehen bleibt, um die Inschrift auf dem großen Findling zu lesen, der dort auf dem Gehsteig an der Brücke steht. "Anfang Mai 1929 fanden hier bei Straßenkämpfen 19 Menschen den Tod. 250 wurden verletzt."stele1© georg+georgNicht besonders erhellend fanden diese Inschrift die Klienten der Kontakt- und Begegnungsstelle für psychisch Kranke in der Wiesenstraße 30. Schon seit Jahren machen sie hier begleitet von der Sozialpädagogin Katrin Schäfer ehrenamtlich das Pankeufer sauber. Immer wieder hakten sie bei Katrin Schäfer nach: Wer hat hier wen umgebracht? Warum? Und was ist davor und danach geschehen? Antworten auf diese Fragen hat der Stein nicht zu bieten.

 

Also beschloss Katrin Schäfer, selbst aktiv zu werden, die Hintergründe herauszufinden und diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zur Hilfe kam ihr dabei ihr ohnehin vorhandenes Interesse für Geschichte. So organisierte sie die "AG Gedenkstein", die sich der Erforschung der historischen Begebenheiten widmet. Darin sind sowohl Klienten der KBS Wiese 30, als auch interessierte Anwohner versammelt.

Heute, am 4. Mai 2019, gibt es etwas zu feiern. Denn die AG hat geliefert: Es wird eine etwa kniehohe Stele eingeweiht, die in Zukunft Interessierten die Informationen serviert, die ihnen der Stein bisher vorenthält. Per QR-Code oder Verweis auf die Website erfahren sie nun ganz einfach über ihr Smartphone, was sie zum Blutmai wissen wollen.

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Brrr: Der Morgen ist kühl, feucht und windig. Trotzdem sind gut 50 Leute gekommen, die unbedingt dabei sein wollen, wenn die Stele in Betrieb genommen wird. Nach einer kurzen Begrüßung durch Initiatorin Katrin Schäfer erhält als erster Ralf Wieland, Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, das Wort. Er macht auf das zur Zeit ungebremste Interesse an deutscher Geschichte aufmerksam. Als Beispiel nennt er die Serie "Babylon Berlin", in der das Thema von heute, der Blutmai, eine große Rolle spielt.

Geschichtserinnerung sei heute so einfach wie nie, hunderte mediale Angebote werden zu jedem geschichtlichen Detail offeriert. Die Kehrseite: Auch Geschichtsmanipulation ist so einfach wie noch nie. Gerade deshalb sei Aufklärung so wichtig und deshalb freue er sich über die Errichtung der QR-Code-Stele, die "Geschichte to go" anbiete, wie Wieland es sehr treffend nennt.

Nun kommt Bernd Schimmler, früherer Weddinger Stadtrat und Vorsitzender des Weddinger Heimatvereins, zu Wort. Er beleuchtet vor allem den geschichtlichen Hintergrund, der im Bruderkampf zwischen Gegnern und Befürwortern der parlamentarischen Demokratie, mithin KPD und SPD, liegt. Der 90. Jahrestag des Blutmais sei ein willkommener Anlass, nun auch mehr über die Zusammenhänge zu erfahren. Als Beispiel erinnert Schimmler an die damalige Sozialfaschismus-Theorie der KPD, derzufolge die SPD schlimmer als die Nazis seien.stele3© georg+georg

Dann nochmal Frau Schäfer. Sie berichtet darüber, wie die AG sich organisiert hat und bedankt sich für die tatkräftige Unterstützung von August-Bebel-Institut und Heimatverein Wedding. Nun, wo die Stele - übrigens finanziert vom QM Pankstraße - steht, geht die AG ein neues Projekt an. Noch in diesem Jahr soll die Arbeit daran starten. Darin wird es auch um die Migration in den Wedding gehen, vielleicht mit Fokus auf die 1970er. Das genaue Thema wird demnächst festgelegt.

Als letzte Rednerin kommt nun Vera Morgenstern, Vorsitzende des BVV-Ausschusses für Bildung und Kultur, an den Gedenkstein. Sie erzählt, dass ihr die Arbeit der AG Gedenkstein viel Kraft gegeben habe, gerade das "extrem hohe" Engagement von Katrin Schäfer über so lange Zeit. Und sie findet es doppelt beachtlich, dass sich Menschen hier so hartnäckig und auch teilweise gegen die Mühlen der Verwaltung engagiert haben, die aus der Umsetzung ihres Vorhabens keinen persönlichen Vorteil ziehen.

Sükran Altunkaynak, Teamleiterin beim Quartiersmanagement Pankstraße, berichtet auf Nachfrage, dass das QM vor Jahren erst für den heutigen Standort des Gedenksteines gesorgt habe, der zuvor abseits aller Blicke ein paar Meter weiter ein trauriges Dasein fristete. In alter Verbundenheit zum Gedenkstein finanziert das QM über den Aktionsfonds obendrein das Buffet für diese Feierstunde. Und so trafen sich alle Teilnehmer in der Kontakt- und Beratungsstelle Wiese 30, um bei internationalen Köstlichkeiten und Kaffee diesen anregenden Morgen auszuwerten und neue Projekte zu schmieden.