Raus aus der Komfortzone!

Wie das vom QM Pankstraße geförderte Projekt "Antidiskriminierung durch Prävention" (Träger: Artikel 1 – Initiative für Menschenwürde e.V.) an der Berufsfachschule für Sozialassistenz in der Gerichtstraße eine wertschätzende Kommunikation  trainiert...

Wir treffen Anja Kullmann und Johannes Karl im Büro von Frau Kullmann zum Interview. Johannes Karl führt hier seit einigen Monaten Argumentationstrainings für die Schülerinnen und Schüler von Anja Kullmann durch. Wir wollen von den beiden wissen, worum es dabei geht, warum diese Kurse wichtig sind und was sie bewirken können.

Anja Kullmann ist Schulleiterin an der Berufsfachschule für Sozialassistenz in der Gerichtstraße. Die Schule gibt es seit 11 Jahren. Frau Kullmann hat hier 2011 als Lehrerin angefangen, die Leitung hat sie seit 2015 inne. Mit ihren 50 Schulplätzen richtet sich die Schule an die Weddinger und Reinickendorfer Jugendlichen, die hier ihre Ausbildung zum/zur Sozialassistenten/-in machen können. Als Zugangsvoraussetzung reicht ein Hauptschulabschluss. Der/die Sozialassistent/-in ist eine Art Sprungbrett für Berufsausbildungen z.B. als Erzieher*in, in Pflege oder Hauswirtschaft. Die Einrichtung des zweiten Bildungsweges steht Schüler*innen ab 18 offen, in Ausnahmefällen auch jünger.

Johannes Karl ist Teil des Projektteams von Artikel 1 – Initiative für Menschenwürde e.V., eines Vereins, der sich für die Stärkung des Miteinanders in demokratischen Strukturen einsetzt. Der Schwerpunkt der Arbeit ist die wertschätzende Kommunikation mit Menschen anderer Meinung. Denn heute steht oft genug an Stelle des echten, konstruktiven Dialogs ein Einanderanschreien. Jungen, aber auch älteren Menschen falle es zunehmend schwer, über eigene Bedürfnisse und Sichtweisen zu reden, ohne ihr Gegenüber anzugreifen oder ihm die Legitimation für die eigene Meinung abzusprechen. Artikel 1 unterhält Projekte in Wedding und ganz Berlin unter dem Label "Radikal respektvoll".

Wie ist es zu der Zusammenarbeit zwischen euch gekommen?

Anja Kullmann (AK): Unser Schulschwerpunkt ist transkulturelles Lernen. Wir bekamen eine Einladung zum BoostCamp im vergangenen Herbst, und dort bin ich mit meinen Kolleginnen hingegangen. Damals haben wir Johannes im Workshop "Argumentationstraining" kennengelernt. Wir dachten sofort, dass dies etwas für unsere Schüler*innen sei. Wie die ganze Gesellschaft haben auch wir hier in der Schule mit der neuen Aggressivität in der Auseinandersetzung zu tun. "Ich greif dich an, ich beleidige deine Herkunft, deine Religion, dein Geschlecht" – dieses Verhalten führt dazu, dass es regelmäßig in den Kursen knallt.

Projekt Antidiskriminierung 2019 2Projekt Antidiskriminierung 2019 2Wie geht man als Schulleitung damit um?

AK:Uns hat es regelmäßig an unsere Grenzen geführt. Wir haben zwar unseren Schulschwerpunkt, dafür auch 2018 beim "Fair@school"-Wettbewerb einen Preis gewonnen, aber trotzdem wurden die Konfrontationen in den Klassen drastischer. Unsere Schülerinnen und Schüler können auf einer Ebene miteinander sprechen, die sehr diskriminierend, bloßstellend und gemein sein kann. Dann wird es laut in den Kursen und man kann nicht mehr arbeiten. Deshalb haben wir Johannes von Artikel 1 eingeladen, damit er mit ihnen genau diese Argumentations- und Sensibilisierungstrainings macht.

Sind diese Trainings denn für so eine Situation geeignet?

Johannes Karl (JK): Diese Trainings sind natürlich relevant, weil all diese Themen Potential bergen für eine persönliche Verletzlichkeit. Wenn man an Identität denkt, dann hat man häufig Menschen, die noch in der Identitätskrise sind. Wir treffen hier auf Leute, die 18 oder 20 Jahre als sind, die sich fragen: Wo gehöre ich hin? Was ist eigentlich für mich Heimat?

Warum ist diese Frage so wichtig?

JK: Alle suchen einen Anschluss an eine größere Gruppe. Und wenn dieser Anschluss infrage gestellt wird, rutscht man ganz schnell ganz tief ab ins Nirgendwo, in eine Haltlosigkeit. Um das zu verhindern, greift man verbal an und versucht sich zu verteidigen, sich zu artikulieren. Und das nicht konstruktiv, sondern destruktiv, indem man dem anderen auch die Heimat abspricht, indem man dem anderen das Recht abspricht, darüber zu urteilen. Und schon ist man in der Konfrontation.

Wie kann man in dieser Situation konstruktiv einen Schritt weiter gehen?

JK: Wir wollen, dass die Leute selbst einen Zugang zu dem Thema finden. Sie sollen eine Haltung entwickeln und es schaffen, diese Haltung offensiv zu vertreten. Aber nicht, indem sie den anderen angreifen, sondern indem sie sich selbst und ihre Handlungsfähigkeit stärken. Genau das haben wir mit Anja Kullmann und ihren Kolleginnen und Kollegen an dieser Schule etabliert.

Wie seid ihr dabei vorgegangen?

AK: Nach dem Boost Camp haben wir gewusst: Das müssen wir auch machen, gerade die Rollenspiele. Als private Schule müssen wir natürlich eine Haushaltsplanung machen, was immer etwas schwierig ist, vor allem, wenn man spontan Geld für so ein Projekt braucht. Trotzdem haben wir bei Johannes und Artikel 1 angefragt, ob wir das bei uns machen können. Und weil wir hier im Einzugsbereich des Quartiersmanagements Pankstraße sind, ging das ziemlich unkompliziert. Unsere Schülerinnen und Schüler kommen ja zum großen Teil hier aus der Gegend, und so war das keine Frage, ob dies für das QM ein akzeptables Projekt ist. Für uns war das perfekt, weil wir unseren Schülern damit etwas bieten können, was wir normalerweise so nicht hinbekommen hätten.

Wird das nun dauerhaft über das QM finanziert?

JK: Am Anfang konnten wir das nicht über QM laufen lassen, weil das im laufenden Projekt so nicht vorgesehen und budgetiert war. Aber wir haben gesehen, dass es diesen Bedarf gibt. Und weil wir nicht hier sind, um die Hand aufzuhalten, sondern um Bedarfe zu erkennen und passgenaue Konzepte dafür zu entwickeln und zu erproben, haben wir das so gemacht. Weil wir noch Kapazitäten hatten und weil es ein spannendes Thema ist. Das ist nicht mehr Primarschule, nicht mehr Schule in der Regelzeit, sondern schon ein Schritt weiter. Und das ist auch für uns spannend, damit umzugehen. Daraus hat sich eine enge Kooperation entwickelt.

Hat euer Engagement hier auch etwas mit den Themen der Ausbildung zu tun?

JK: Na klar, genau wegen dieses Berufsbildes im sozialen Bereich ist unser Training doppelt wichtig. Ich kann mir ja nicht aussuchen, mit wem ich zusammenarbeite und wen ich pflege. Ich muss mich darauf einstellen, dass ich auf Menschen treffe, die vielfältig sind. Innerhalb kürzester Zeit werde ich mit unterschiedlichen Biografien, Charakteren und Temperamenten, auch mit unterschiedlichen Fähigkeiten konfrontiert. Also wie gehe ich mit den Menschen um, die genau diese Vielfalt ausstrahlen und wie reagiere ich auf sie? Da gibt es durchaus Stresssituationen. Auch innerhalb der Assistenz-Teams gibt es diese Unterschiedlichkeit.

Es scheint also an erster Stelle immer um einen selbst zu gehen. Wie kann man den Blick auf sich selbst und die eigene Stellung in bestimmten Situationen schärfen?

JK: Das haben wir uns in den einzelnen Formaten angeguckt und trainiert und dafür sensibilisiert. Ist ja 'ne wichtige Frage: Wie bekomme ich innerhalb von fünf Minuten - mehr Zeit hat man meist nicht - einen Zugang zu Menschen? Und wie ticke ich in einem Team? Bin ich jemand, der sehr schnell eine Führungsrolle einnimmt, bin ich jemand, der geduldig die Sachen analysiert, bin ich jemand, der sehr viel kommuniziert und so weiter. Wie kann ich das so in die Gruppe einbringen, dass sie davon profitiert? Wenn ich das einmal analysiert und verinnerlicht habe, stärkt das nicht nur mein Selbstbewusstsein, sondern führt auch zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber anderen und letztlich zu sozialer Kompetenz auf einem neuen Level.

AK: Ja, und genau die brauchen unsere Leute. Den Bedarf sehen wir schon, wenn sie hier ankommen. Nach dem ersten Praktikum kommen sie zurück an die Schule mit Konflikten jeglicher Art. Und auch in den Klassen geht es oft ruppig zu. Dabei sehen wir den Klassenraum als den eigentlichen Ausbildungsort, weil sie dort auf die verschiedenen Menschen, Herkünfte, Religionen treffen.

Wieviele Schüler sind in den Klassen?

AK: 28. Und darunter sind die unterschiedlichsten Charaktere. Manche nehmen die Ausbildung total ernst, sind immer vorbereitet und pünktlich. Andere sind nie pünktlich oder kommen so gut wie nie, spicken bei Klausuren und so weiter. Ist ja klar, dass sich daraus Konflikte ergeben, die gelöst werden müssen.

Ist das dann nur nervig, oder kann daraus auch etwas entstehen?

AK: Wir sehen das als Übung für die Praktika. Wenn sie dort sind und die Mutter von Jean-Pascal anschreien, weil die will, dass der Junge sich die Schuhe selber anzieht, was Zeit kostet, ist das wenig hilfreich. Genauso wenig wie es hilfreich ist, den rechtsradikalen Vater anzumachen - denn sie sind dort einfach in einer anderen Rolle. Sie müssen ihn nicht mögen, seine Meinung nicht vertreten - aber sie müssen mit ihm arbeiten.

JK: Und das auch, wenn sie an persönliche Grenzen kommen. Und genau das ist die Herausforderung: Wie handele ich, wenn ich an meine persönlichen Grenzen komme und wenn ich aus meiner Komfortzone muss?

Wie genau trainiert man das?

JK: Das geht nur interaktiv, in Simulation. Es geht nicht in Theorie. Wenn ich vorne ein Flipchart aufmache und das erklären will, macht das keinen Sinn. Jedenfalls nicht für die Praxis. Man muss es erleben. Wir simulieren zwei, drei Stunden lang Stresssituationen. Wir schauen, wie der einzelne reagiert. Wenn wir zum Beispiel eine Schülerin nach vorne nehmen, suchen wir uns ein Thema aus, das für sie persönlich wichtig und in dem sie auch stark ist. Denn es geht uns hier ja nicht ums Vorführen. Es geht darum, zu gucken, was ich schon kann und was ich vielleicht noch nicht so gut kann.

OK, wenn die Probanden in diesem Bereich stark sind - wozu brauchen sie dann ein Training?

JK: Die Frage ist: Wo wird der Schalter umgelegt, sodass es schwierig wird? Diesen Schalter wollen wir finden und ihn in einem geschützten Raum umlegen. Dann sehen wir, was bei xy passiert, wenn sie getriggert ist, wenn Stress ist, wenn ihr ganzer Körper voller Kraft ist und sich die Haare aufstellen. Dafür sind wir als Trainer und Pädagogen geschult, um damit umzugehen. Wir führen sie ganz bewusst in diese Situation herein und haben das auch schon hunderte Male gemacht. In diesen Simulationen waren von Grundschülern bis zu Bankern schon alle möglichen Menschen.

Was macht die Gruppe derweil?

JK: Zehn, fünfzehn Weitere schauen sich das an und analysieren die Situation. Wir als Trainer machen das immer als Tandem, als gemischtes Doppel. Nach fünf Minuten wechseln dann die Darsteller - und die, die gerade noch zugeschaut haben, kommen nun selbst in die Simulation. Das klingt, wenn man das so formuliert, abschreckend und nach Überwindung, aber Sie glauben gar nicht, wie viel Spaß das macht. Wie die Finger hochschnellen, wenn wir die Nächsten suchen. "Den Trainer, den will ich, den mach ich jetzt fertig!" denken dann viele und wollen dort anknüpfen, wo der oder die Letzte ins Straucheln gekommen ist. Das auszuprobieren, sich das zu trauen ist genau der Schlüssel zum Erfolg.

Was, wenn man sich dann nicht so geschickt verhält?

JK: Im Alltag auf der Straße hätte das Konsequenzen, die muss man einschätzen und mit denen muss man leben. Diese Konsequenzen haben unsere Trainings nicht, hier kann man sich im geschützten Raum selber testen. Das funktioniert sowohl in Einzel- als auch in Gruppensituationen. Denn Gruppendynamiken sind noch mal was anderes, wenn zwei Leute provozieren, sich gegenseitig unterstützen. Da ist es viel schwieriger, dagegen zu halten und man gerät schneller in eine relative Minderheit. Das sind am Ende ja auch gesellschaftliche Phänomene, denen man begegnen muss: Wie gehe ich mit einer Gruppe um, die eigentlich eine Minderheit ist, aber so stark auftritt, dass sie für mich wie eine Mehrheit wirkt. Sie kann Diskurse bestimmen oder sogar übernehmen. Gucken Sie sich unsere politische Landschaft an, da gibt es genug aktuelle Beispiele.

Also sind die Mechanismen vergleichbar?

JK: Klar, das sind die gleichen Mechanismen, die hier wirken. Die Frage ist auch hier, wie man mit gezielten Provokationen umgeht. Fange ich an, auszuteilen? Ziehe ich mich zurück und versuche, das Ganze sachlich abzuspulen, obwohl es schon längst um Emotionen geht? Versuche ich, den anderen zu erreichen? Und will sich der andere überhaupt erreichen lassen? Insgesamt ist die zentrale Frage, was mein Ziel ist in dieser Situation und was das Ziel der anderen Seite ist. Wenn ich das weiß, dann kann ich gezielt strategisch vorgehen und weiß, wo meine Grenzen sind. Wenn ich in einer Situation nicht weiß, wohin ich will, dann komme ich ins Straucheln. Das macht mich angreifbar, unglaubwürdig und wütend, weil es sehr unbefriedigend ist.

Aber es erfordert eine hohe gedankliche Flexibilität, weil die Situationen, die einem im Alltag geschehen, nicht plan- und vorhersehbar sind. Also muss ich das Ziel, dass ich in diesen Situationen verfolge, spontan definieren, oder?

AK: Nicht unbedingt, manche Konflikte sind durchaus vorhersehbar. Bei meinen Schülerinnen ist es so: Viele tragen Kopftuch und erleben tagtäglich Diskriminierung, zum Beispiel in der U-Bahn. Der eine Kurs hat mir als Rückmeldung gegeben, dass es für sie gut war, überhaupt mal so einen Raum zu haben, um testen zu können, wie es ist, für sich selber einzustehen. Die Situation, die sie kennen ist die: Jetzt kommt wieder ein Kommentar zu meinem Kopftuch, da steig ich besser aus. Jetzt werde ich blöd gemustert - da steige ich besser aus. Da ist es gut, Strategien testen zu können und aus diesem geschützten Raum mit einem kleinen bisschen mehr Selbstwertgefühl rauszukommen. Mit einem ein bisschen besseren Gefühl: Das bin ich, und das ist meine Identität, die lass ich mir nicht nehmen.

Also überlegen Sie sich vorher, welche Situationen das sein könnten, in die die Schülerinnen und Schüler kommen könnten?

AK: Ja sicher. Auf dem Boost Camp hab ich das gesehen und wollte das auch mal ausprobieren. Da dachte ich mir: Okay, am Anfang probier' ich mal was einfaches aus. Und da habe ich meine Oma als Beispiel genommen, weil die auch manchmal an mir rumgemeckert hat. Johannes hat dann die Oma gespielt. Und dann dachte ich: Die Oma war jetzt leicht. Dann wollte ich einen Berserker haben …

JK: Na, die Oma, die ist ja nicht laut und aggressiv. Die wirkt viel verletzlicher als so ein Typ, der gerade aus dem Fitnessstudio kommt. Das Narrativ ist auch ein anderes, sie ist viel mehr von Ängsten als von Wut geleitet. Und da sind wir auch wieder bei den Zielen. Wenn ich als Ziel habe, ein Statement loszulassen, dann kann ich das machen, indem ich zum Beispiel sage: "Hören Sie, ich will eigentlich nur nach Hause, aber in Ihrer Gegenwart fühle ich mich unwohl. Ich finde das unverschämt." Damit hätte ich mein Ziel erreicht und kann aussteigen. Wenn ich aber konkret jemanden helfen will, Leute schützen will, einer negativen Dynamik etwas entgegenhalten will, dann brauche ich eine Koalition mit anderen. Da muss ich erstmal gucken, wer in dem Raum ist. Und wie kann ich mich sehr schnell mit denen zusammentun, die dafür infrage kommen?

Und wie geht das?

JK: Da gibt es ein paar einfache Tricks und Kniffs, zum Beispiel in die Wir-Perspektive zu gehen. Ich kann dem Aggressor klar machen, dass er hier nicht eine einzelne Person, sondern uns alle angreift. "Die ganze Bahn will einfach nur nach Hause - und Sie machen hier so 'nen Aufstand! Das nervt - und zwar nicht nur mich. Merken Sie das nicht?" Damit habe ich schon mal eine ganz andere Position eingenommen. Habe ihm klar gemacht, dass er hier alleine dasteht und die ganze Bahn nervt. Auch, wenn die Leute passiv waren und bleiben, ich kann ihm diesen passiven Raum entgegenstellen. Es passiert ja eher selten, dass einer aufsteht und sagt: "Nö, das nervt mich nicht, ich finde das spannend."

Wie viele Unterrichtseinheiten durchlaufen die Schülerinnen und Schüler in diesem Projekt?

AK: Wir haben hier Projekttage, die allerdings durch unsere Kolleginnen und Kollegen abgedeckt werden. Wenn Johannes Karl kommt, dann ist das einmalig für einen Kurs als Extra-Projekt über einen ganzen Unterrichtstag.

Ihr habt hier aufgrund des Alters Schülerinnen und Schüler mit einer schon relativ gefestigten Persönlichkeit. Ist es schwieriger, mit denen umzugehen im Vergleich zu Grundschülern?

JK: Natürlich, viel schwieriger - weil diese Menschen etwas zu verlieren haben. Wir machen das Programm auch an der Wedding-Grundschule und an der Erika-Mann-Grundschule. Dort ist das Programm zwar anders aufgebaut, als Begleitung über fünf Tage. Aber Grundschülerinnen und Grundschüler sind viel mehr von der Neugier geprägt, etwas neues auszuprobieren. Die sind bereit, auch mal zu scheitern. Erwachsene haben eine viel größere Angst, sich vor einer Gruppe bloßzustellen. Und es kostet mehr Überwindung und ist zeitintensiver, sie zu überzeugen, das auszuprobieren. Wenn es dann einmal losgeht, dann ist es super. Aber diese Hemmschwelle nimmt mit steigendem Alter zu.

Kommen die Schülerinnen und Schüler verändert aus den Kursen raus?

AK: Ja. Die gehen mit einer großen Klappe rein, dann passiert drin etwas, und sie kommen total begeistert wieder raus. Sie sind begeistert von dem Team, die das Programm machen, geflasht von sich selbst, weil sie sich überwunden haben und sie sind schon etwas mehr sensibilisiert. Sie gehen anders miteinander ins Gespräch und greifen die Erfahrungen aus diesem Tag im Unterricht wieder auf. Alles, was ich im ersten Halbjahr unterrichte, ist Kommunikation, Schulz von Thun mit seinem Kommunikationsmodell ist ganz zentral. Da kann man mit dem Argumentationstraining andocken und fragen, wie das war. Was habt ihr gelernt, was habt ihr über euch gelernt? Und wenn irgendwann Konflikte aufploppen, können wir an diese Erfahrungen anknüpfen und die Situation ganz anders betrachten.

Wann findet das Training statt, im ersten Halbjahr?

AK: Jedes Halbjahr ist möglich. Wir reagieren da auch auf die Situation in den Kursen. Etwa der Kurs, in den Johannes als nächsten reingeht, kämpft gerade intern mit Rassismus-Vorwürfen. Die sind im letzten Halbjahr. Und der andere Kurs, der danach drankommt, ist im zweiten Halbjahr. Jeder Kurs hat im Verlauf seiner Ausbildung hier einmal dieses Training - irgendwann.

Bekommt ihr Unterstützung vom QM?

JK: Das QM ist sehr aufgeschlossen dafür, dass wir unser Programm hier ausprobieren. Und sie bieten natürlich den Rahmen, in dem diese Kurse überhaupt stattfinden können. Wir haben dank QM-Förderung die Flexibilität, auf diese Bedarfe zu reagieren. Das QM-Team begleitet diesen Prozess an der IB-Berufsfachschule und stellt die Ressourcen zur Verfügung, ohne dass wir nach jedem Workshop fünf Seiten Protokoll abliefern müssen. Wir stehen in engem Kontakt, haben aber großen Freiraum. Es macht uns viel Spaß, hier in diesem Quartier zu arbeiten. Das gilt übrigens für QM generell, vor allem hier im Wedding. Wir schätzen das sehr.

Gibt es außer der Ausrichtung auf die Altersstufe Unterschiede zu euren sonstigen Programmen?

JK: Ja, unser Grundschul-Programm "Radikal respektvoll" ist langfristig angelegt mit mehreren Projektstufen. Sehr präventiv und darauf aus, Grundlagen zu bilden, auf denen die Lehrenden aufbauen können. Hier reagieren wir akut auf Bedarfe, das ist schon ein Unterschied. Eine Arbeit am Konflikt, wenn man das so sagen will. Das macht das hier besonders. An den Grundschulen sind die Kurse viel einfacher, kürzer und spielerischer.

Es ist ja eine Herausforderung, in den Kursen viele verschiedene Charaktere in variierenden Situationen auf Zuruf verkörpern zu können. Von der Oma über den Fitness-Nerd bis hin zum Neonazi oder Macho. Sind Sie Schauspieler, Herr Karl?

JK:(lacht) Ich kommen ursprünglich aus den Politik- und Wirtschaftswissenschaften. In der Politik begegnet man einfach einer unheimlichen Vielzahl von Charakteren. Und wenn man das hauptberuflich macht, lernt man deren Sprache, deren Stil, deren Habitus kennen. Politiker profilieren sich ja häufig ganz bewusst in eine Richtung - volksnah, hanseatisch-reserviert, hochkulturell oder ähnliches. Einer, der aus der Arbeiterschaft kommt und das Kumpelimage pflegt, spricht eher "frei Schnauze" als jemand, der akademisch wahrgenommen werden will. Das ist so das Fundament. Hinzu kommen die Neugier auf Menschen und die unterschiedlichen Charaktere, die ich in unseren Kursen kennengelernt habe. Deren Stil konnte ich dann ziemlich gut adaptieren.

Text und Fotos von Johannes Hayner, goerg&georg